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Mike Fuselier: Richtungswechsel

Bei einem Klettertrip in die Türkei im Frühjahr 2015 stürzte Mike Fuselier in einem Sektor bei Datça über zwanzig Meter in die Tiefe. Obwohl alle Prognosen sich darin einig waren, dass er künftig zu vielen Dingen nicht mehr in der Lage wäre, erzählt Mike Fuselier uns eineinhalb Jahre nach diesem Unfall mit großen Emotionen seine Geschichte und wie er es geschafft hat, dieses Schicksal für sich zu einer wichtigen Lebenserfahrung zu machen. Mit dem Durchstieg der berühmten 8c „Un clin d’œil au paradis“ in Tournoux (Hautes-Alpes) im Jahr 2016 schloss Mike ein Kapitel ab, um ein neues aufzuschlagen und seinen Lebensweg fortzusetzen.

25 Januar 2017

Klettern

Mike Fuselier recovery

Meine Geschichte noch einmal erzählen? Warum nicht? Aber dieses Mal möchte ich sie anders schildern. Ich möchte bestimmte Anekdoten, die mir wichtig erscheinen, hervorheben. Eine Erfahrung die, so hoffe ich, anderen Personen, die einen Unfall hatten und sich die Frage stellen, wie es nun weitergehen soll, helfen und sie inspirieren kann. Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich großes Glück hatte und die Dinge für mich optimal gelaufen sind. Ich habe nicht die Absicht, eine Gebrauchsanweisung zum Thema „Wie geht es nach einem Unfall weiter“ zu schreiben. Ich weiß sehr wohl, dass es kompliziertere Fälle und unterschiedliche Hintergründe gibt (Krankenversicherung, Herkunftsland usw.). Hier geht es einzig und allein um eine Schilderung und die Weitergabe einer Erfahrung. Es ist sicher kein Thema für das "Psychologie Magazin", ich stelle nur meine Vision der Dinge und wie ich mich daran halte dar. Ich möchte erklären, wie diese Philosophie es mir ermöglicht hat, das Beste aus dieser unglaublichen Erfahrung zu machen.   

- „Für mich passts so!“ Ich habe genügend Bildmaterial von der Tour. Direkt unter dem Standplatz von "Fort comme un Tuc" (Datça, Türkei) an meinem Statikseil hängend verstaue ich meinen Fotoapparat und mache mich fürs Abseilen fertig. Ich hänge mich aus dem Stand aus und als ich mich in meinen Gurt setze, spüre ich sofort, wie ich in die Tiefe gerissen wurde. Reflexartig umklammere ich das Seil mit der rechten Hand, aber dies spielt für den fatalen Ausgang meines Fehlers nur eine geringfügige Rolle. Als ich zu stürzen beginne, befinde ich mich auf Höhe des Standplatzes, ca. 25 Meter über dem Boden in einem 30 Grad-Überhang. Um es genau zu sagen, da war nicht viel, um meinen Sturz zu bremsen. Ja genau, ich riss ein großes Loch in die Luft.

"Das ist also das Ende, dachte ich bei mir."

Hier in dieser Felswand fern von meiner Familie, fern von Anaïs. Dieser eine Moment in deinem Leben, wo dein Gehirn auf Hochtouren läuft und du schneller und intensiver denkst, als du es jemals bewusst tun könntest. Vollgepumpt mit Adrenalin verstehst und analysierst du deine Situation mit großem Scharfblick. Du weißt, dass du gleich sterben musst, aber du willst und kannst das nicht hinnehmen. Ich befinde mich im freien Fall und stürze aus großer Höhe. Ich weiß auch, dass der Boden mit Felsblöcken übersät ist. Ich sage mir, dass die Situation nicht einer gewissen Komik entbehrt, denn wenige Minuten bevor ich mich in dieser misslichen Lage befand, hatte mein Freund Nicolas Nastorg mich noch gewarnt, als er sah, wie ich einige Meter über dem Boden hin und her schaukelte. – „Hör auf mit dem Quatsch! Glaub mir, hier willst du nicht ins Krankenhaus…“

Während sich meine Hand im Fall an alles zu klammern versucht, was sie erreichen kann, sehe ich dem unausweichlichen Ende entgegen, dem ich durch die Schwerkraft ausgesetzt bin. Da ich die Newtonsche Theorie nicht widerlegen kann, beschließe ich zu kämpfen und will versuchen, unter den bestmöglichen Umständen auf dem Boden zu landen. Ich werde meine Überlebenschancen optimieren, indem ich einen großen, weiten Sprung mache. Es wird bestimmt sehr wehtun.

"Ich landete wie eine Katze auf dem Boden."

Noch in der Luft habe ich mich aufgerichtet, versucht das Gleichgewicht zu wahren, Arme und Beine eng beieinander zu halten und mich auf den Aufprall vorbereitet wie ein Schluchtengeher, der mit einem großen Sprung ins Wasser taucht und Arme und Beine anlegt, um sich nicht zu verletzen. Diese unbewussten Reflexe und meine körperliche Kondition haben mir ohne Zweifel das Leben gerettet. Alle meine Muskeln waren angespannt. Ich denke, dass mein Gehirn in einer nie zuvor erlebten Stresssituation alle Fasern des Körpers für die Landung mobilisiert hat.

"Stand es geschrieben?"

Wie viele Male bin ich schon auf dem Weg zu einer Klettertour in Spanien an dieser Autobahnausfahrt vorbeigefahren? Wie oft habe ich mir schon gesagt, dass ich nochmal dorthin fahren sollte? Zu diesem Fleckchen Erde, wo ich als Kind jeden Sommer verbrachte. Ich war seit über zwanzig Jahren nicht mehr dort gewesen und ich kann auch nicht sagen, was mich dieses Mal bewogen hat, bei meiner Rückkehr aus Südfrankreich in „Vias“, einer Kleinstadt wenige Kilometer westlich von Cap d’Agde, abzufahren. Vielleicht bin ich einem Impuls oder meinetwegen einer Intuition gefolgt. Trotz einiger Schwierigkeiten fand ich den Ort meiner Kindheit wieder. Voller Euphorie und ein wenig nostalgisch lief ich kreuz und quer durch die Gegend und versuchte, die über mich hereinbrechende Welle von Erinnerungen zu ordnen. Schließlich kehrte ich zu meinem Auto zurück, das ich am Straßenrand in einer 90-Grad-Kurve geparkt hatte. Ich setzte mich und ließ meinen Träumereien freien Lauf. Das Verkehrsschild vor mir hatte ich überhaupt nicht gesehen. Ein großer blauer Kreis mit einem weißen Pfeil, der besagt, dass hier links abgebogen werden muss. Es ist unvorstellbar, dass ich dieses große Schild direkt vor meiner Nase nicht gesehen habe. Dieses Symbol verschmolz schließlich mit dem Bild im Hintergrund, dem Land meiner Kindheit.

Ich brauchte etwas Zeit um zu verstehen, dass das Schild mir etwas Wichtiges sagen wollte: 
"Achtung, Richtungswechsel“. 

Im ersten Moment habe ich über die Absurdität der Botschaft, die ich mir zurechtgelegt hatte, gelacht. Ob absurd oder nicht sei dahingestellt, jedenfalls hatte ich die Botschaft eine Woche vor meiner Türkeireise vor Augen. 

Als ich wieder zu Bewusstsein kam, stand Axel über mich gebeugt. Er half mir mich zu beruhigen, indem er eine Hand auf meinen Brustkorb legte. Ich hatte das ungute Gefühl, mich in einem Traum zu befinden und nicht aufwachen zu können. Er sagte: „Du hast einen kleinen Sturz gemacht und ich glaube, dass deine Füße gebrochen sind, aber keine Sorge! Die Bergwacht ist benachrichtigt. Ich begann zu verstehen, warum ich nicht aus dem Traum aufwachen konnte.   
Danach habe ich nur bruchstückhafte Erinnerungen an das, was passiert ist. Ich weiß nur, dass die Versorgung durch die Rettungskräfte und die türkischen Ärzte sehr zu wünschen übrig ließ, dass ungefähr dreißig Stunden nach meinem Unfall der Rücktransport nach Frankreich erfolgte, damit man mich im Krankenhaus von Grenoble sofort operieren konnte. Erst bei Ankunft der für den Rücktransport zuständigen Ärzte schaffte ich es, meine Kiefermuskulatur und meine Fäuste zu lockern. Ich kämpfte mit aller Kraft, die mir noch blieb, bis zur ihrer Ankunft. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, in welchem Zustand ich mich befand und kein Mensch war in der Lage, es mir zu sagen. Dennoch war die Besorgnis, die ich in den Gesichtern meiner Freunde las, aufschlussreich genug um zu verstehen, dass ich nicht aufgeben durfte. Die Bilanz war ziemlich düster. Zwar hatte ich eine Fraktur der Stirnhöhle und des Augenbrauenbogens sowie ein Thoraxtrauma, aber die größte Wucht des Aufpralls hatten meine Füße kassiert.  

Rechter Fuß:

  • Trümmerfrakturen des inneren, mittleren und seitlichen Keilbeins sowie des Würfelbeins
  • Fraktur der Basis des ersten, zweiten, dritten und vierten Mittelfußknochens.
  • Dislozierte Fraktur an der Verbindung zwischen Körper und Köpfchen des zweiten Mittelfußknochens.
  • Verrenkung der Mittelfuß-/Zehengliedknochen des dritten Strahles
  • Fraktur an den vorderen und hinteren Rändern des Sprungbeins

Linker Fuß:

  • Komplizierte Trümmerfraktur des Fersenbeins.
  • Dislozierte Mehrfachfraktur der Basis des ersten Mittelfußknochens.
  • Dislozierte offene Mehrfachfraktur des Körpers des zweiten Mittelfußknochens.
  • Dislozierte Fraktur des Körpers des dritten Mittelfußknochens.
  • Fraktur des Körpers des vierten Mittelfußknochens.

Als ich im Aufwachraum wieder zu mir kam, sah ich merkwürdige, beunruhigende bruchstückhafte Szenen an mir vorüber ziehen. Ein Bild kam und verschwand immer wieder. Es handelte sich um das Verkehrsschild, das mit dem Ort meiner Kindheit verschmolz. Aber in diesem Moment im Aufwachsaal, den Körper vollgepumpt mit Schmerzmitteln, maß ich diesen Bildern keine große Bedeutung zu. 

Nach einigen Tagen wurde ich auf die Station verlegt. Meine Frau, meine Kinder, meine Familie und meine Freunde kamen mich jeden Tag besuchen. Auch wenn es mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war, ihre Unterstützung und ihre Präsenz waren es, die mir die Kraft gaben, wieder ins Leben zurückzukehren. Ich hatte eine unglaubliche Unterstützung, um diese schwere Zeit durchzustehen und ich war nie allein, wenn mich ab und zu der Mut verließ.    
Doktor Dao Lena, die Chirurgin, die mich operiert und meine Füße gerettet hatte, besuchte mich im Krankenzimmer, um mir zu erklären, was sie gemacht hatte, welche Schwierigkeiten sie hatte und wie sie darum gekämpft hat, eine Amputation eines Teils meines rechten Fußes zu vermeiden. Sie erklärte mir, was ich ihrer Meinung nach alles nicht mehr tun könne. Angesichts des zertrümmerten Knochens, den sie reparieren musste, ihrer Erfahrung und der Statistiken sahen die Prognosen nicht gut aus. Sie sagte mir, ich würde große Probleme beim Gehen haben, könne nicht mehr rennen und wahrscheinlich nicht mehr klettern. Aber das war nicht schlimm, denn ich war am Leben und hatte noch beide Füße. Und ich sagte mir, es kann lange dauern, aber ich werde alle meine Fähigkeiten wieder erlangen.

"So fing es an!“

Allmählich begann mir die Schwere meiner Verletzungen und was all dies für die Zukunft bedeutet, klar zu werden. In diesem Augenblick hatte ich die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Entweder ich verzagte, gab mich geschlagen und fand mich mit der Situation ab oder ich entwarf unverzüglich einen Schlachtplan wohlwissend, dass ein langer Weg der Genesung vor mir lag.

"Ich habe mit mir selbst gewettet und mir ein Versprechen gegeben."

Da ich mir über meinen körperlichen Zustand in etwa im Klaren war, überlegte ich mir, was ich an Arbeit und Disziplin aufbringen musste, um meine Wette zu gewinnen. Zum Glück war ich es gewohnt und hatte den größten Teil meines Lebens dafür trainiert sportliche Ziele zu erreichen. 

Es gibt nichts umsonst und ich wusste, was mir bevorstand, wenn ich diese Wette gewinnen wollte. Die Tatsache, dass die größte Herausforderung meines Lebens von mir abhängig war, gab mir Zuversicht. Außerdem hatte ich meiner Frau versprochen, dass ich wieder laufen würde und dass die Erfahrung dieses Unfalls uns mehr Nutzen als Schaden einbringen würde. Ein solches Versprechen bricht man nicht. Die Tatsache, dass ich kämpfte, auch und vor allem, um unserer Familie eine gewisse Form von Lebensqualität und Normalität zu ermöglichen, war eine enorme Motivationsquelle. Ich wollte wieder im zehnten Grad klettern und hatte mir sogar das Ziel gesetzt, eine 8c zu knacken. Warum sollte ich mir selbst Grenzen setzen? Würde ich wieder im 11. Grad klettern können? Ja, wenn ich mit aller Kraft daran arbeite. 

Nach drei Wochen im Krankenhaus kam ich ins Reha-Zentrum in Grenoble. Es begann eine neue Etappe. Ich hatte das Glück, dass die Ärzte und Physiotherapeuten dort mein Temperament gleich erkannt haben. Sie halfen mir dabei, meine Energie zu kanalisieren und richtig einzusetzen, um nichts falsch zu machen. Ich  verbrachte 7 Stunden am Tag im Trainingsraum, um meine körperlichen Fähigkeiten wiederherzustellen: Krankengymnastik, Krafttraining, Dehnübungen, Elektrotherapie und noch viele andere Techniken, um meine Fortschritte zu optimieren. Und ich machte Fortschritte!

"Informationen, die ich nicht verdauen konnte"

Aufgrund des Zustands der Haut an meinem linken Fuß konnte dieser wegen des Risikos einer Nekrose nicht gleichzeitig mit dem rechten Fuß operiert werden. Ich musste 45 Tage auf die Operation des Fußes und den Versuch, die Form meines Fersenbeins wiederherzustellen, warten. Nach der Operation kam Doktor Dao Lena zu mir, um mich über den Verlauf der Operation zu informieren und mir erneut zu erklären, wobei ich künftig Probleme hätte bzw. was ich nicht mehr würde tun können. Im Gegensatz zum ersten Mal hörte ich nicht nur ihre Worte, ich begann auch den Sinn dessen, was sie mir erklärte nachzuvollziehen. Das machte mir Angst, es machte alle meine Ziele zunichte und stellte alles in Frage.

Drei Tage nach der Operation kam ich wieder ins Reha-Zentrum. Ein paar Stunden nachdem ich in mein Zimmer zurückgekehrt war, bekam ich Bauchschmerzen. Es war unangenehm, aber nicht unerträglich. Mir gingen ständig all die Dinge durch den Kopf, die ich nicht mehr würde machen können. Ich sagte mir, dass das Leben es gut mit mir gemeint hat, aber dass es einfach zu hart sei hinzunehmen, dass nun alles vorbei ist. Ich konnte es nicht akzeptieren und verdauen. Meine Bauchschmerzen wurden immer stärker und ich dachte, dass es all diese Informationen waren, die mir auf dem Magen lagen.  

In der Nacht verschlimmerte sich mein Zustand und ich wurde von einem Notarzt untersucht. Er legte seine Hand auf meinen Bauch und schon beim geringsten Druck war der Schmerz so stark, dass ich seine Hand beiseite stieß. An seinem Blick erkannte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Und als er der Krankenschwester sagte, sie solle einen Krankenwagen rufen, damit ich schnellstens ins Krankenhaus käme, begann ich mir das Schlimmste auszumalen. Ich dachte an all die anderen Patienten des Reha-Zentrums, die sich eine Infektion mit schweren Komplikationen eingefangen hatten. Ich sagte mir, dass auch ich mir während meiner Fußoperation wahrscheinlich eine Infektion zugezogen hatte. Welch eine Ironie des Schicksals!!! Ich hatte einen Sturz aus 20 Meter Höhe überlebt, war von einer Infektion verschont geblieben, als ich mit offenen Füßen in der Türkei lag und ausgerechnet hier in Frankreich hatte ich mir einen Keim eingefangen! Ich war irrsinnig wütend und begann zu verzagen.   

Im Krankenhaus haben sie ein MRT gemacht, aber ich bekam die Ergebnisse nicht sofort. Es war am Tag der „Fête de la Musique“ und alle Chirurgen waren beschäftigt. Da ich mir große Sorgen um meinen Zustand machte, war das Warten besonders schwierig und beängstigend. Um 23 Uhr kam endlich ein Chirurg zu mir. Er sagte, er habe zu viel zu tun und könne mich erst am nächsten Morgen operieren. – Operieren ? Was denn operieren? Ich hatte letztendlich nur eine Blinddarmentzündung.

Da ich die Information von Doktor Dao-Lena nicht verdauen konnte, hatte mein „zweites Gehirn“, der Darm, sie zum Ausdruck gebracht. Diese Blindarmentzündung war wahrscheinlich die größte psychische Belastung, der ich jemals ausgesetzt war. Die Moral von der Geschichte ist, dass wir, auch unbewusst, in der Lage sind, mit unserem Körper auszudrücken, was unsere Psyche belastet. Und wenn ich in der Lage bin, mich durch die Kraft der Psyche in diesen fürchterlichen Zustand zu versetzen, dann kann ich es auch anders herum.

"Wenn ich entschlossen bin nach vorne zu schauen, sendet mein Körper mir die entsprechenden Signale."

Nach diesem Ereignis kehrte ich zum Alltag im Reha-Zentrum zurück. Körperlich machte ich täglich Fortschritte, aber ich hatte noch immer eine gewisse emotionelle Blockade. Ich machte mir Sorgen um meine berufliche Zukunft. Ich wusste, dass ich diese Hürde überwinden musste, um nach vorne zu schauen. Zwar war die Genesung bereits ein Ziel an sich, aber ich brauchte Klarheit darüber, wofür ich kämpfte. Ich musste unbedingt zu meinen Wurzeln zurückkehren. Ich hatte das Bedürfnis, die symbolischen Orte meiner Kindheit wiederzusehen. Mit einem breiten Lächeln an einem Ort  zu stehen und mir zu sagen: Ich habe das unglaubliche Glück wirklich hier zu sein. Die Möglichkeit zu haben an diesem Ort zu sein, den ich mir ausgesucht habe und mir vorzunehmen, hier ein langes Kapitel abzuschließen. Es ist nicht tragisch, ein Kapitel seines Lebens zu beenden, wenn man sich aus freien Stücken dafür entscheidet. Aber diese Entscheidung muss man durchdenken, akzeptieren und damit leben! Ich beschloss mir anzusehen, was aus meiner Grundschule, mit der mich zahlreiche Erinnerungen verbinden, geworden ist. Ihrem verkommenen Zustand nach zu urteilen, ist die Schule bereits seit längerem geschlossen. Ich spazierte über den alten Schulhof und gab mich meinen Erinnerungen hin. Ich begegnete dem achtjährigen Michaël, der mich ungläubig ansah. Ich lächelte ihm zu und erzählte ihm, was für ein tolles Leben er vor sich hat und dass er keine Angst haben muss. Er erschien mir zugleich beruhigt und entzückt. Dann wandte ich mich dem siebzigjährigen Michaël zu, der mich lächelnd anblickte. Er erzählte mir von all den fabelhaften Dingen, die vor mir liegen, wenn ich es schaffe, dieses Kapitel abzuschließen.

Er hat mich nicht belogen. Ich habe keine Angst mehr, neue Kapitel aufzuschlagen, denn ich  bin der Einzige, der sie schreibt und beendet. Selbstverständlich wähle ich die Tinte, mit der ich diese Worte schreibe, sorgfältig aus. Diese Tinte entsteht Tag für Tag aus meinen Emotionen, meine Bedürfnissen, meiner Entschlossenheit und meiner Zuneigung, die ich  gebe und empfange.

Meine Freundin Albane, die bei meinem Unfall dabei war, hat den Hüftgurt, den ich bei meinem Absturz trug, aufbewahrt und einen beschädigten Teil mit der Hand wieder genäht. Sie brachte ihn mir drei oder vier Monate nach dem Unfall mit einer kurzen Nachricht:

"Make the best of your second life"

Dieser Satz hat sich in mein Gedächtnis gebrannt und ich gebe mein Bestes, damit mein zweites Leben so schön und so authentisch wie möglich wird. Neben den körperlichen Folgen hat mir diese Erfahrung die Augen geöffnet für die wesentlichen Dinge des Lebens, die für mich an erster Stelle stehen: Liebe, Freude, Mut, Verhältnismäßigkeit, Authentizität, Entschlossenheit, Sensibilität, Optimismus, Gemeinsamkeit, Einfachheit.

Damit bin ich gut gerüstet und kann alles daran setzen, mich selbst zu verwirklichen und die Möglichkeiten, die sich mir bieten, bestmöglich zu nutzen. Mein Training wird angepasst, und wenn es sich nicht anpassen lässt, dann passe ich mich an. Ich staune über mich selbst, weil ich ständig meine eigenen Grenzen verschiebe. Wenn ich ein Ziel habe, dessen Realisierung mir möglich erscheint, starte ich durch, trainiere und gebe alles, was in meinen Kräften steht. Ich finde immer Freunde, die mich unterstützen, mir helfen und mich ermutigen.    

Jeder lebt seine eigene Geschichte und ist seines eigenen Glückes Schmied. Kurz bevor ich diese Geschichte schreibe, wurde mein linker Fuß zum fünften Mal operiert. Du meinst, das ist viel?
Es war mir wichtig, diese Geschichte mit vielen Details zu erzählen. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass sie allen, die nach einem Unfall voller Zweifel sind und Angst vor der Veränderung haben, helfen, inspirieren und ein wenig Hoffnung geben kann.

"Wir haben nicht die geringste Vorstellung davon, was wir alles schaffen können und welche Kraft in uns schlummert, solange sie nicht auf die Probe gestellt wird."

Nichts ist unüberwindbar, wenn man seinen Zustand akzeptieren, die richtigen Hilfsmittel nutzen und die angebotene Hilfe annehmen kann. Trotz der zahlreichen Eingriffe, die ich über mich ergehen ließ, um ein minimales Wohlbefinden wiederzuerlangen und einigermaßen funktionieren zu können, weiß ich, dass ich für den Rest meines Lebens Schmerzen haben werde. Aber diese Schmerzen erinnern mich auch jeden Morgen daran, welches Glück ich habe, dieses Leben noch in vollen Zügen genießen zu können!!!

Auch wenn der Weg lang ist, weiß ich, dass ich meine Aktivitäten auch mit zwei krummen Füßen weiter ausüben kann. Dass ich in der Reparaturwerkstatt war, um sie auszutauschen, dass ich keine Vorstellung habe von meinen Grenzen, aber dass ich sie so bald wie möglich austesten möchte. Ich weiß auch, dass ich mit „clin d'œil au paradis“ den ersten Teil meiner Wette schon gewonnen habe.

Mike Fuselier,
Grenoble, 11. Januar 2017

Mike Fuselier recovery

 

Danksagung

Das Leben ist ein Geschenk: Ohne die folgenden Personen wäre ich vielleicht tot oder ich hätte meinen Fuß verloren. Sie haben mit ihrer einzigartigen Solidarität und ihrer menschlichen Wärme dieses Geschenk für mich ausgesucht, eingepackt und es mir in aller Aufrichtigkeit überreicht. Ohne sie hätte ich diese Zeilen wahrscheinlich nie geschrieben, hätte ich nicht diesen Optimismus und hätte wahrscheinlich gar nichts getan. Zu glauben man sei stärker als der Tod ist utopisch. Ich hatte wunderbare Menschen an meiner Seite, die mir über diese schwere Zeit hinweggeholfen haben.

Meine Freunde, ihr habt mir am Fels bis zu meinem Rücktransport tapfer und verständig zur Seite gestanden.  Svana, Albane, Vincent, Nicolas, Olivier und Axel, wir haben dieses traumatische Erlebnis geteilt.

Doktor Dao Lena hat einen beeindruckenden Kampfgeist und viel Courage bewiesen.  Séverine, du bist ins Spiel gekommen, als es 3:0 gegen mich stand, aber du hast alles daran gesetzt, um diese Begegnung zum Erfolg zu führen. DANKE!

Das Reha-Zentrum im Rollstuhl verlassen zu können, war eine ungeheure Genugtuung für mich. Mein Optimismus und mein Kampfgeist hätten schweren Schaden genommen, wenn meine Schwester Karin und mein Bruder Jonathan mir nicht zur Seite gestanden hätten.  Ich musste nur „please help“ murmeln und schon waren sie zur Stelle, um mich an jeden gewünschten Ort zu fahren.

Alle meine Freunde waren da, um mit mir rauszugehen, mich zu unterstützen und  mich auf andere Gedanken zu bringen. Ihr wart so zahlreich zur Stelle und ich bin euch unheimlich dankbar dafür. Danke an die Titounes, Danke an Alban und Perrine, Danke an Guillaume und  Perrine, Danke an Greg und Mag, Danke an Coco, Danke an alle, die ich nicht namentlich nenne und die für mich da waren.  

Christophe (Doktor Rulh), dein Verhältnis zum Patienten, deine Menschlichkeit und deine positive Einstellung haben mir in Rocheplane sehr geholfen. Doktor Judet ist ein genialer Chirurg mit Händen aus Gold. Außerdem behandelt er seine Patienten mit großer Demut. Ihm habe ich es unter anderen zu verdanken, dass ich wieder normal laufen werde.

Dass ich das Beste aus diesem Abenteuer machen konnte, verdanke ich allen, die mit Abstand und Objektivität auf die Dinge um uns herum schauen. Danke Geneviève, dass du mir erklärt hast, worauf es ankommt.  

Das Wort Danke reicht nicht, um dir, Gilou, meine Verbundenheit für alles, was du für meine Wiederherstellung getan hast, zum Ausdruck zu bringen. Deine Pflege, deine Erklärungen, dein Verständnis, deine Aufgeschlossenheit, deine Zeit, deine Anwesenheit, all das gibst du mir, sobald ich es brauche.

Danke liebe Eltern für eure Unterstützung und alles, was ihr für mein Wohlergehen getan habt.

Auch mit bestem Willen und aller Kraft hätte ich es nicht geschafft, auch nur den kleinsten Buckel zu überwinden, ich hätte keinen Berg bestiegen, ich wäre wahrscheinlich untergegangen, hätte ich Anaïs nicht gehabt. Ich spreche über mein Unglück, aber meine Frau hat weitaus schwereres Leid getragen als ich. Mit unglaublicher Kraft und Courage hat sie ihre Ängste, ihren Schmerz und ihre Zweifel überwunden, um sich mit aller Kraft um meinen Rücktransport, um meine Familie und meine Freunde zu kümmern. Sie hat mich unterstützt, gepflegt und geliebt. Sie hat schlaflose Nächte mit mir im Krankenhaus verbracht und sich vergewissert, dass ich die bestmögliche Behandlung erhielt. Sie hat es geschafft, alles zu managen und nebenbei noch die Zeit zu finden, mich überall hin zu fahren. Sie hat den ganzen Papierkram mit der Versicherung erledigt. Und trotz allem war sie noch in der Lage, mich mit ihren großen blauen Augen anzusehen und mir zu sagen „das wird schon, Pilou“. Ich danke dir dafür, das schönste Geschenk meines Lebens zu sein.  

Ich werde nicht vergessen, wie ihre Eltern, Brüder und ihre Schwester (Françoise, Pierre, Nathalie und Cyril) sowie ihre tollen Freunde ihr in dieser schweren Zeit beigestanden haben.

Das Leben hat mir eine zweite Chance gegeben und dank der Hilfe von euch allen werde ich das Beste daraus machen.

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